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DER SCHÖNSCHREIBER

Leseprobe
​NOT


Liebe Kerstin

Gut möglich, dass du mein vorgängiges Mail auch eben erst zu Gesicht gekriegt hast und jetzt bereits wieder eins. Ich weiß, du wirst derzeit gerade in über-steigertem Maße mit Geschriebenem von mir eingedeckt und magst dich womöglich darüber wundern. Auch mir passiert es, wenn ich zwischenzeitlich wieder Atem hole und bei dieser Gelegenheit in den Blick kriege, was ich da eigentlich veranstalte, dass mich ein Gefühl des Befremdens erfasst und mir die Frage, wo denn der Antrieb für all das seinen Ursprung haben könnte, nichts als Verlegenheit beschert. Nur, ich unterlasse es, da tiefer einzudringen, nehme bewusst und mit Entschiedenheit Abstand von allen Analyseversuchen und bekenne, wenn ich dies wiederum dann doch analysiere, dass es Angst ist, nichts als Angst, das mich davon abhält, hier erhellende Vorstöße zu unternehmen. Angst, mir könnte sich aufdrängen, es sei wohl opportuner, dir nicht mehr zu schreiben. Und an diesen Punkt, liebe Kerstin, will ich nicht gelangen.
 

Dann schau doch mal meine folgenden Gedanken an, welche ich schon vor längerer Zeit für mich festgehalten habe. Sie handeln vom aussichtslosen Versuch, trotz der unabweisbaren Ahnung um das Paradox der Liebe, von dem wir anlässlich unseres letzten Treffens ja gesprochen haben, doch noch zu einem Ort der Gewissheit zu finden und gleichsam festen Boden unter die Füße zu kriegen (vielleicht erinnerst du dich, ich habe dir diesen Text ja noch versprochen).

«Mein dichtes langes Haar gefällt dir, ebenso meine gebräunte Haut. Wenn das nun verloren ginge, mir die Haare ausfielen und die Haut erbleichte, würdest du mich dann immer noch lieben?
   Und wenn ich darüber hinaus einen Unfall hätte und man mir ein Bein amputieren müsste, was wäre dann mit deiner Liebe?
   Und wenn mir dann, weshalb auch immer, noch das verbliebene Bein genommen würde, wie stünde es dann um deine Gefühle mir gegenüber?
   Stell dir weiter vor, meine Fähigkeit zu sprechen ginge auch verloren und mein Gesicht würde entstellt und irgendwann wäre ich nur noch eine durch und durch beschädigte Kreatur, ein zitterndes Etwas, am Rande des Lebendigen vegetierend. Würdest du auch dann noch den Satz ‹Ich lieb dich› über deine Lippen bringen?»

   Der Mann hatte seine Rede mit zunehmender Erregung geführt. Wie Peitschenhiebe ließ er die Fragen auf die junge, dem Mädchenalter noch kaum entwachsene Frau niedergehen. Aber auf jede einzelne von ihnen ließ sie unverzüglich ein festes Ja folgen. Nun saß sie da, in die Kissen gelehnt, die Wangen vom eben vollzogenen Geschlechtsakt noch leicht gerötet, mit einem zaghaften Ausdruck von Stolz und Tapferkeit im Gesicht.
   Sein Blick tastete sie forschend ab. Eine feine Schweißspur hielt einige Strähnen ihres Haaransatzes feuchtglänzend auf der Stirn fest.
   Er fühlte sich getrieben, musste abschließend wissen, ob auf das Mädchen Verlass sei, ob ihre Liebe zu ihm, egal was auch immer ihm widerfahren würde, unerschüttert bliebe. Gab es kein Zeichen, keinen Hinweis, nicht eine Andeutung in diesem off
enen, beinahe noch kindlichen Gesicht, welche ihm mit einem Male Gewissheit verschafft hätte? War da nichts, das die unberechenbaren, immer wieder in sein Bewusstsein hineinschießenden Zweifel endgültig untergehen ließe? Etwas, das ihn vom steten Argwohn, von der dauernden angespannten Bereitschaft zum Abwehrkampf befreit hätte?
   Er sehnte sich nach dem, das bleibt, auch wenn er es sein lässt. Nach einer Gewissheit, die von sich aus Bestand hätte, jenseits seines Zutuns. Die weiter existieren würde, auch ohne seinerseitige Beschwörungen, von der sich sein Blick lösen dürfte, ohne dass sie verloren ginge.
   Natürlich hätte er der jungen Frau auch irgendwelche Aussagen über ihre Ja-Antworten abverlangen können. Versicherungen, dass die Antworten nichts als ehrlich und ganz und gar der Wahrheit gemäß erteilt worden seien. Nur hatte er schon längst erkannt, dass derartigen Versuchen, mittels übergeordneten Aussagen der jeweils tieferen Ebene Gewissheit einzuhauchen, kein Erfolg beschieden war. Dies daher, weil Metaebenen ihrerseits dazu neigen, binnen Kürze nach ihren eigenen Metaebenen zu rufen, was dem ganzen Vorgang etwas entschieden Unabsehbares verleiht. Aussagen bleiben Aussagen und damit bezweiflungsfähig, auch wenn sie in schwindelerregender Stufung übergeordnet sind.


Gruß,W.


Und wieder ertappte sich W. bei der besorgten Frage, was der Text bei Kerstin wohl auslösen würde. Ob sie am Ende des Lesens, wenn sich ihr Blick von den Zeilen gelöst hätte und, ohne zu schauen, irgendwohin gerichtet wäre, ob dann ihr Bild von ihm ein anderes geworden wäre. Ob die Falte, sich von der Nasenwurzel hinziehend zur Stirn, tiefer reichen würde als eben noch zuvor und sie ihn damit in einem skeptischeren Lichte sähe. Ob ihre Gunst ihm gegenüber Schaden genommen haben könnte, er ihr fremd erscheinen oder sie gar ängstigen würde. Oder ob das alles überhaupt nicht zutraf, sondern genau das Gegenteil davon. Ein Gedanke, der bei W., auch wenn er sich ihm nur schon vorsichtig anzunähern begann, Gefühle hervorrief, deren Unvertrautheit und Eindringlichkeit ihn sogleich zurückschrecken ließ.
   Dabei wollte er sich doch gar nicht mehr mit derartigen ohnehin zu keinem Ergebnis führenden, immer nur neue Zweifel hervorbringenden Erörterungen beschäf-tigen. Sein Ziel war ja einzig, sich zu zeigen, unverstellten Einblick zu gewähren in das, was ist, und eben gerade nicht, bestimmte vordefinierte Wirkungen zu produzieren. Aufhören sollte sie endlich, diese Selbstinstrumentalisierung.
   Und dennoch, wenn Kerstin den Text nicht verstand oder falls sie es tat, seinen Inhalt ablehnen würde, zum Schluss käme, jemandem, der so dächte, könne sie nicht wirklich nahe sein, und sie dann Anstalten zeigen würde, sich von ihm zu entfernen – W. beunruhigten diese Vorstellungen. Er würde, sollte sich ein solches Szenario abzeichnen, dagegen ankämpfen. Er müsste dann Kerstin unbedingt zur Klarheit verhelfen darüber, aus welchen Motiven der Text tatsächlich hervorgegangen ist, worin das eigentliche Wesen des Autors besteht, das in ihm aufscheint. Und vor allem müsste er sie hinführen zur abgrundtiefen Not, die hier zur Sprache gefunden hat und um Erhörung bittet. Er würde ihr von seiner Sehnsucht nach Gewissheit erzählen und von ihrer Widersacherin, der Furcht, einer bloß trügerischen zu erliegen. Und er würde das Bild entwerfen von einem Mann, der sich dem freien Fall überlässt, weil er glaubt, hätte er einmal Halt gefunden, könnte dieser dann doch nachgeben und er würde fallen. Und er würde ihr erklären, dass das mit den vielen Mails an all die Frauen etwas mit diesem freien Fall zu tun hätte. Und am Schluss, diesem Satz hatte er sich schon im Wortlaut Gestalt gegeben, würde er sie anflehen. «Ja siehst du sie denn nicht, die Not, die hinter all dem steht, die schiere Verzweiflung, die hier die Feder führt?» 



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