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DER SCHÖNSCHREIBER

Leseprobe «Leitungs-wasser»

Leitungswasser
 
Sie wollte gehen und verlangte die Rechnung.
Als sie diese ausgehändigt bekommen hatte, machte sie sich sogleich daran, deren Positionen auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Eine Gewohnheit, deren Verfestigungsgrad W. mehrfach kläglich hatte scheitern lassen im Versuch, Kerstin davon abzubringen. In teils mit großer Heftigkeit geführten Auseinandersetzungen hatte es W. nicht einmal geschafft, Kerstin überhaupt dahin zu bringen, sich auch nur die Frage zu stellen, ob dieses – von W. als peinliche Unsitte bezeichnete – Verhalten denn wirklich durch und durch angemessen sei. Zeitdruck hin oder her, Kerstin war auch jetzt außerstande es zu lassen und fand auch, für W. wenig überraschend, Anlass, an einem Eintrag auf der Rechnung Anstoß zu nehmen.
Sie hatte während des Essens zwei Gläser Leitungswasser zu sich genommen und ihr Finger zeigte jetzt, übermäßig gestreckt, als gälte es das bezeigte Objekt platt zu drücken und damit der Vernichtung zuzuführen, so schien es jedenfalls W., auf die Position «2x Wasser natur, 1,50, 3,00».

Rollenden Augen und schwerem Atmen seitens W.s war keine Wirkung beschieden. Unbeirrbar und mit empörungsgeladener Geste zitierte Kerstin den Kellner an den Tisch. W. wusste, was folgen würde. Entsprechend fühlte er sich unbehaglich und hätte, um nicht Zeuge der sich anbahnenden Diskussion sein zu müssen und womöglich noch als Gesinnungsgenosse oder gleichsam Mittäter wahrgenommen zu werden, am liebsten seinen Anteil der Rechnung auf den Tisch gelegt und Kerstin mitgeteilt, er ginge jetzt und würde draußen vor dem Eingang auf sie warten. Zugleich fand er aber auch, dass von Kerstin an den Tag gelegte Verhaltensweisen einzig in ihre Verantwortung fielen und dass, sollte der Kellner diesbezüglich einer anderen Auffassung zuneigen, es allein dessen Problem wäre, welches W. in keinster Weise zu berühren bräuchte.
Solcherart hin- und hergerissen, verpasste es W., sich rechtzeitig davonzumachen und er hörte Kerstin in unverhohlen anklagendem Ton behaupten:
«Verzeihung, aber hier liegt ein Irrtum vor!» 
Damit war die Richtung der Auseinandersetzung gewiesen, welche zusehends gehässigere Züge annahm.
Kerstin versuchte darzulegen, dass die Kosten für die Bereitstellung von einem Glas, gefüllt mit Leitungswasser, auch unter Bemühung einer Vollkostenrechnung gegen Null tendieren würden und dass daher der geforderte Preis von CHF 1,50 einer kaum zu überbietenden Kleinlichkeit entspringe, welche einen dunklen Schatten auf das Image des Lokals werfen und den Gast zu Recht zur bitteren Erkenntnis führen würde, dass die ihm hier zugedachte Rolle wohl vorrangig die eines Abzockobjektes wäre.
Dem hielt der Angegriffene nicht minder eloquent und differenziert entgegen, dass, wie zu Recht behauptet, die Einzelkosten für das Produkt «ein Glas Wasser» zwar vernachlässigbar seien, dass sich aber ein ganz anderes Bild zeige, wenn die Gemeinkosten vollumfänglich erfasst und fachlich korrekt den Einzelkosten zugerechnet würden, und dass sie wohl reichlich ahnungslos sein dürfte betreffs der Größenordnung der Gemeinkosten in einem Gastronomiebetrieb. Dann sei weiter auch der aus Wirtesicht unerfreuliche Trend zu berücksichtigen, dass je länger, je mehr Gäste nach Leitungswasser verlangen würden, was in der Regel dann mit einem Verzicht auf sonstige Getränke einherginge – ein Trend im Übrigen, dessen Ursprung sich ihm nicht zur Gänze erschließe, sodass ihm nur zu spekulieren bliebe, dass im Bestellen von Leitungswasser womöglich ein symbolischer Akt zu erblicken sei, welcher dazu dienen sollte, den Anspruch auf ein in besonderem Maße geschärftes ökologisches Bewusstsein zum Ausdruck zu bringen. Jedenfalls würde diese gesteigerte Nachfrage nach Leitungswasser den Umsatz von den traditionellerweise georderten Getränken, deren Kostenpflichtigkeit ja gänzlich unstrittig sei, empfindlich schmälern. Und diese Einbußen müssten ja schließlich irgendwie kompensiert werden. Da hätte grundsätzlich auch die Möglichkeit einer generellen geringfügigen Erhöhung des Preisniveaus in Betracht gezogen werden können, was dann aber gewissermaßen auf eine Sozialisierung der Kosten hinausgelaufen wäre, als deren Verursacher doch eindeutig die Leitungswasserbesteller zu identifizieren seien. Dieser Lösungsansatz sei daher aus allgemeinen Gerechtigkeitsüberlegungen verworfen worden, sodass sozusagen als kleinstes Übel nur noch die Alternative geblieben sei, das Produkt Leitungswasser separat in Rechnung zu stellen. Wobei die Rede vom Produkt Leitungswasser sich allenfalls als etwas irreführend erweisen könnte, da es sich im gegebenen Kontext selbstredend nicht um eine bloße Ware handle, sondern dass dabei immer auch ein beachtlicher Dienstleistungsanteil mit involviert sei. Hier möchte er aber darauf verzichten, diesen Aspekt im Einzelnen weiter zu erörtern, da die Mittagsöffnungszeit nun doch schon um einiges überschritten sei. Zum Schluss möchte er nur noch darauf hinweisen, dass diese ganzen Erläuterungen, zu denen er sich aufgefordert sah, wohl auch eine offensichtlich im Zusammenhang mit dem Glas Leitungswasser stehende Dienstleistung darstellen würden.
An dieser Stelle hielt der Kellner inne, verstummend wandte er den Blick ab von seinem Gegenüber in eine imaginäre Ferne, als würde er dort am Horizont das Aufgehen des Gedankens verfolgen, den er sich dann anschickte, das Auge nun wieder auf seiner Kontrahentin, mitzuteilen:
«Wobei man hierzu, das sei der guten Ordnung halber noch erwähnt, allerdings berechtigterweise einwenden könnte, dass es sich dabei um eine zirkuläre Argumentation handle, da ja erst der Umstand der separaten Verrechnung dazu führe, dass Diskussionen der vorliegenden Art überhaupt stattfänden.»
Damit hatte er seine Replik beendet und platzierte, nicht frei von Theatralik, gerade so, als würde nun zum Vollzug eines höchstrichterlichen Urteils von unabsehbarer Tragweite geschritten, die Rechnung derart auf dem Tisch, dass sie sowohl von Kerstin als auch von W. ungehindert einsehbar war. Zugleich öffnete er seine Börse demonstrativ weit und änderte seine Körperhaltung dahingehend, dass ein eben erst hinzugetretener Beobachter den Eindruck hätte gewinnen müssen, der bemitleidenswerte Serviceangestellte warte schon unzumutbar lange auf die Begleichung der Rechnung und wüsste darob gar nicht mehr, wie sich aufrecht halten.
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