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DER SCHÖNSCHREIBER

Leseprobe «Dumm Gelaufen»

Dumm gelaufen / Sitzung
 
Mit eben dieser Kerstin war W. also zum Mittagessen verabredet. Zuvor hatte er allerdings noch an einer Sitzung teilzunehmen, in der Bank, wo er als Softwareentwickler seinem Broterwerb nachging. Das Treffen war äußerst kurzfristig anberaumt worden und im Betreff des Einladungsmails tauchte prominent der Begriff «Krise» auf. Beim Absender handelte es sich um ein hochrangiges Kadermitglied des IT-Bereichs. Das war die übliche Hysterie, die dann um sich griff, wenn ein Vertreter von einer noch höheren Hierarchieebene seinen Blick über die Niederungen des realen betrieblichen Geschehens hatte gleiten lassen und dieser dann an einem tatsächlichen oder auch bloß vermeintlichen Missstand haften geblieben war.

Vor langer Zeit hatten Sitzungen, die unter solchen Vorzeichen standen, W. noch in einen Zustand der Anspannung versetzt. Der Gedanke, es könnten Vorhaltungen an ihn herangetragen werden, die zu entkräften ihm nicht gelingen würde, lag dann immer irgendwo auf der Lauer und ließ ihn keine Ruhe mehr finden. In späteren Jahren dann wich in solchen Situationen die Furcht vor Peinlichkeit und Ansehensminderung zusehends einem Gefühl des Ärgers. Ärger über das in seinen Augen nichts als anmaßende und zugleich bemitleidenswert lächerliche Welt- und Selbstverständnis der zum Managerzirkel Zugehörigen. Lächerlich, weil sie ihren Einfluss auf den Lauf der Dinge in geradezu groteskem Maß überschätzten und dabei dem Wahn verfallen waren, je schneller ein Entscheid getroffen und je spektakulärer die daraus folgende Aktion sich darstellen würde, desto verlässlicher würden sich die realen Vorgänge ihrem Willen fügen. Eine Art magisches Denken, ähnlich der urtümlichen Vorstellung, mit der Erzeugung von dröhnendem Lärm, einhergehend mit heftigen, ruckartigen Bewegungen, ließen sich böse Geister vertreiben. Und das alles mit dem Anspruch, ihr Tun wäre das folgerichtige Ergebnis ebenso tiefreichender wie klarsichtiger, einzig dem Geist der Logik verpflichteter Untersuchungen. Derweil, so W.s Einschätzung, waren die typischen Entscheidungen, an denen die Manager ihre überlegenen Gaben erstrahlen lassen wollten, bei Weitem zu komplex und was ihre Konsequenzen anbelangt, zu sehr mit Ungewissheit behaftet, als dass sie noch rational hätten angegangen werden können. Die Folgerung lautete dann, dass Manager, dort, wo sie von umfassenden Analysen und Ähnlichem schwadronieren, nichts als würfeln und mithin als Zocker zu gelten haben, deren Tun einzig darin besteht, Launen des Schicksals mit Blick auf die Maximierung des persönlichen Nutzens zu kommentieren. Produziert der Zufall einen Sechser, trommeln sie sich auf die Brust, resultiert ein Einser, klagen sie über Faktoren, die sich prinzipiell nicht abschätzen ließen und ebenso prinzipiell schon gar nicht beeinflussbar wären.

Bei solchen Themen konnte sich W. in einen richtigen Furor hineindenken, dem keine Radikalität genug war und der Behauptungen hervorbrachte, deren Gültigkeitsanspruch weit über die Klasse der Manager und ihrer Funktionsweise hinausging und die sich nicht weniger anmaßten als den Status unumstößlicher Lehrsätze zum Menschsein überhaupt.
Demnach etwa sind dann Ideologien stets das Resultat einer Kapitulation gegenüber den Komplexitätszumutungen der Wirklichkeit. Ausdruck der Sehnsucht nach Freiheit von Ambivalenz, nach Überzeugungen jenseits jeden Zweifels, dem ganz und gar geeinten Wollen. Mithin: Sich seiner sicher sein als Leugnung der Unberechenbarkeit der Welt, als Zeichen des Unvermögens, deren Zugriffsverweigerungen auszuhalten.

Was die Manager anbelangte, bestand für W. kein Zweifel: Sollte es überhaupt solche geben, die in irgendeinem Sinne als gut gelten konnten, dann waren es die, welche, im Bewusstsein ihrer Überflüssigkeit, aus Dankbarkeit, dennoch geduldet zu werden, stillhielten und die produktiven Kräfte gewähren ließen.
Schließlich hatte sich auch dieses Gefühl des Ärgers mehr und mehr abgenutzt, sodass er an solchen Inszenierungen, obwohl raum-zeitlich anwesend, im eigentlichen Sinne gar nicht mehr teilnahm. Es war dann so, als würde gleichsam ein Delegierter von ihm bei jeweils passender Gelegenheit die im Kreise der Anwesenden erwarteten Sätze von sich geben, derweil er selbst, innerlich enthoben, in gänzlich anderen Sphären zugange war, wohin das äußere Geschehen nur selten und auch dann bloß bruchstückhaft durchdrang, ohne je eine Wirkung hervorzurufen, die über ein unsichtbares, ebenso flüchtiges wie müdes Lächeln hinausgegangen wäre.

Es gab auch eine Phase, da bereitete es ihm ein ganz besonderes Vergnügen, den Austausch zwischen den Teilnehmern an solchen Veranstaltungen unter einer ganz eigener Perspektive mitzuverfolgen. Grundlage war dabei der Umstand, dass die Kommunikation bei solchen geschäftlichen Besprechungen – noch ausgeprägter als bei sonstigem sozialem Geschehen – einer, wenn auch nicht offensichtlichen, so doch unzweifelhaften Doppelbödigkeit unterworfen war. Ging es auf der einen Seite und vordergründig um die Sache und nichts als die Sache, was auch jeder der Teilnehmenden uneingeschränkt für sich in Anspruch nahm, lief auf der anderen Seite, gleichsam inoffiziell und uneingestanden, noch ein ganz anderes Spiel. Hier der rationale Diskurs, darauf gerichtet, die gute, im Dienste der Unternehmensziele stehende Lösung zu finden, dort die weitgehend deregulierte, dem Diktat unberechenbarer Impulse folgende Auseinandersetzung um Rollenzuschreibungen, Beziehungsdefinitionen, Positionierungen in hierarchischen Gefügen und damit letztlich um die Frage, wer was darf und wem was verboten ist. Die Eigenart von W.s Perspektive bestand nun darin, dass sie ausschließlich den Raum gewissermaßen zwischen den beiden Böden in den Blick nahm und alle Deutungen des Gesagten als eines über die Sache ausblendete.
Auf diese Weise erschloss sich ihm eine Art Parallelwelt, die ihm während einiger Zeit einen deutlich höheren Unterhaltungswert bot als die durchwegs absehbaren Vorgänge bei einer Fokussierung auf die Sachebene.
Anfänglich etwas verstörend, dann aber zusehends erheiternd, fand er das Phänomen, dass sich mit dem Wechsel der Perspektive auch das Aussehen der beobachteten Personen veränderte. Wurden sie als der Sache zugewandt wahrgenommen, erschienen sie eher älter, in der Mimik und dem emotionalen Ausdruck überhaupt verhaltener und sich insgesamt äußerlich viel ähnlicher, als wenn die Aufmerksamkeit ihrem Tun rund um die Verortung des Egos galt. In der Sachbezogenheit fand offenbar in Teilen eine Einebnung von Unterschieden zwischen den Akteuren statt, während umgekehrt im Zuge der Interaktionen zur sozialen Positionierung individuelle Merkmale gerade auch betreffend das Erscheinungsbild stärker hervorgehoben wurden. Die äußerste Steigerung erfuhr das Spiel mit den zwei Welten, wenn W. wiederholt und kurzfristig von einer Perspektive zur anderen wechselte. Analog den geläufigen Kippbildern hatte er es dann gleichsam mit einer realen Kippszene, besetzt mit leibhaftigen Figuren, zu tun. Durch das rasche Hin- und Herkippen erhielt die Doppeldeutigkeit der Situation dabei eine Eindringlichkeit, die beinah schon unheimlich anmutete und in W. sich ein anregendes Kribbeln ausbreiten ließ, was diese auch länger dauernden, bei Normal-Perspektive an Ödheit nicht zu überbietenden Sitzungen gut gelaunt und nicht ohne Erlebnisgewinn überstehen ließ.
 
Beim Gegenstand der heutigen Sitzung, der offensichtlich für eine gewisse Aufregung gesorgt hatte, wodurch sich auch einige höherrangige Funktionsträger veranlasst sahen, in Erscheinung zu treten, handelte es sich um den Versand einer größeren Anzahl von Kundenschreiben mit fehlerhaften Abrechnungsdaten. Wobei erschwerend hinzu kam, dass es sich bei den zugrunde liegenden Bankgeschäften um solche handelte, die ihrer Natur nach Beträge involvierten, die sich deutlich außerhalb des üblichen Rahmens bewegten. Der Ablauf der Besprechung orientierte sich an dem für solche Situationen geltenden Standardschema. Zunächst wurde der Frage nachgegangen, wie das Ganze überhaupt passieren konnte, und insbesondere, welche Stellen dafür als verantwortlich zu identifizieren waren. Daran schlossen Erörterungen an, wie sich allenfalls eine Schadensbegrenzung gestalten ließe. Schließlich galt es noch, Überlegungen anzustellen, mittels welcher Maßnahmen sich künftig ähnliche Vorfälle vermeiden ließen. W. war vor allem im Zusammenhang mit dem ersten Punkt zu einer Stellungnahme aufgerufen, da offensichtlich auch Software, die in seine Zuständigkeit fiel, an der Produktion der fehlerhaften Kundenschreiben mitbeteiligt war. Es galt darzulegen, welche Umstände im Einzelnen zum Auftreten der Unstimmigkeiten geführt hatten. Hier bot sich ein weiter Gestaltungsspielraum an: Waren die Leute, die gestützt auf diese Ausführungen über Verantwortlichkeitszuschreibungen und Präventionsmaßnahmen zu befinden hatten, doch in der Regel aufgrund fehlenden Sachverstandes nicht in der Lage, die Plausibilität des Gesagten abzuschätzen oder auch nur eine kritische Frage dazu zu stellen. Das erlaubte dem zur Rede Gestellten, in diesem Falle W., sich im Zuge seiner Erklärungen nicht bloß an der Frage zu orientieren, was tatsächlich der Fall war, sondern auch daran, mit welcher Darstellung sich bei den anwesenden Managern diejenigen Entscheidungen provozieren ließen, die am ehesten in seinem Sinne standen. Um es bildhaft auf den Punkt zu bringen, wurde der Richter so zum willkürlich einsetzbaren Instrument in der Hand des Angeklagten. Ein Tatbestand, den dieser, sich allerhand rhetorischer Kunstgriffe bedienend, selbstredend nachhaltig zu vernebeln verstand. Das alles gestaltete sich als aufwendiger, wortreicher Vorgang, der aus taktischen Motiven abschnittsweise auch äußerst detaillierte Schilderungen miteinschloss. Insgesamt ein zielführendes Tun, aber irgendwie auch von einer gewissen Schwerfälligkeit und bar jeder Eleganz.
Umso hingerissener war W. von der Darbietung, die als Nächstes kommen sollte. Nachdem er seine Ausführungen zu Ende gebracht hatte mit einem betont festen Blick in die Gesichter aller anwesenden Entscheidungsträger und diese mit ernster Miene zurückschauten, so als hätten sie die Problematik in all ihren Dimensionen und ihrem ganzen Schweregrad jetzt kristallklar vor Augen, wurde eine jüngere Frau, die sich bisher noch nicht geäußert, das Geschehen aber aufmerksam mitverfolgt hatte, ihrerseits zur Stellungnahme aufgefordert. Es galt als unstrittig, dass die aufgetretenen Fehler auch durch Programme bzw. Daten, welche in ihre Zuständigkeit fielen, mitbeeinflusst waren. Da stand also die Frage im Raum, gestellt nicht ohne Strenge, wie denn das Versagen der von ihr zu verantwortenden Systemkomponenten zu erklären sei. Und deren Adressatin – W. hätte sich vor ihr niederwerfen und ihr lebenslängliche tiefste Verehrung zusichern können – sagte, nach einigen rasch hingeworfenen einleitenden Floskeln und anschließenden Signalen, dass jetzt gleich der Kern ihrer Stellungnahme folgen würde – sie sagte also in dieser Situation zwei, genau zwei Worte: „Dumm gelaufen!“

Hier muss man sich nochmals die Situation, in welche hinein diese zwei Worte gesagt hineinbrachen, vor Augen führen und sich die Atmosphäre im Sitzungsraum in aller Deutlichkeit vergegenwärtigen, den Anspruch auf allgemeine Betroffenheit im Angesicht der Krise, welche es zu bewältigen galt, die allgegenwärtige Aufforderung, Verantwortung zu übernehmen und sämtliche relevanten Sachverhalte rückhaltlos aufzuklären, dann natürlich die als selbstverständlich geltende Ernsthaftigkeit und Sorgfalt, mit der all dies zu geschehen hatte, und dazu, über dem Ganzen schwebend und es durchdringend, die lauernden Blicke der Obrigkeitsvertreter, inquisitorisch und unerbittlich.

Dieses Bewusstsein um die Situation mit all ihren Verhaltensdiktaten ist erforderlich, um den Zustand der Begeisterung, in welchen die zwei Worte W. versetzten, begreiflich zu machen. Weiterhin ist auch zu berücksichtigen, dass das «dumm gelaufen» selbstredend nicht als isolierte verbale Äußerung vorgebracht worden war, sondern im Verbund stand mit anderen Ausdruckselementen – insbesondere mit einem Lachen, dessen Unbekümmertheit dem Gesagten eine Leichtigkeit verlieh, dass es gleichsam durch den Raum zu schweben schien. Darüber hinaus aber auch einem Lachen, das die Lippen wahrgenommen haben wollte, wie sie sich öffnen, den Blick freigeben auf die Zähne und tiefer im Mund die Zunge erahnen lassen, mithin auch ein sinnliches Lachen, Abschweifungen hin zu erotischen Fantasien ermöglichend, ein Versprechen gar, nicht nachzuweisen, aber doch erlaubend, als solches verstanden zu werden.
Rückblickend, mit dem Gefühl, die ihm passend erscheinende Begrifflichkeit gefunden zu haben, würde W. die Botschaft in all ihren Ausdrucksdimensionen, mittels der die junge Frau hätte Rechenschaft geben sollen, als Gesamtkunstwerk bezeichnen. Eines, das in hochverdichteter Form den Plan für ein grundlegend gewandeltes menschliches Zusammenleben in sich barg und welches insofern auch einen subversiven Akt von unabsehbarer Tragweite darstellte. Und dann würde es ihn weitertragen zu Spekulationen darüber, ob wir in einer Welt leben, in der es zentral um die Frage «Wahr oder falsch?» geht, oder nicht eher in einer Welt, die beherrscht wird vom Thema «Hässlich oder schön?». Und ob Fragen der Erkenntnis reduzierbar seien auf Fragen der Ästhetik. Ob sich Argumente durch ihre Schlüssigkeit oder Rhetorik kraft ihrer Schönheit durchsetzen. Und schließlich würde er vorläufig zur Ruhe finden in der zusammenfassenden Frage, ob Wahrheit womöglich nicht als erkenntnistheoretische, sondern als ästhetische Auszeichnung zu gelten habe.
 
Jetzt während der Sitzung aber war W. einfach nur hingerissen. Und hätte sie, die eigentlich zur Rechtfertigung aufgerufen war, auch den Untergang der ganzen Firma einschließlich seines eigenen Arbeitsplatzes zu verantworten gehabt, er hätte, im Bann des Zaubers und erfüllt mit jeder Hoffnung, vielleicht auch etwas verlegen, zurückgelächelt und dabei gedacht: „Dumm gelaufen!“ Und allen anderen Anwesenden wäre es ebenso ergangen.    

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