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DER SCHÖNSCHREIBER

Lese-Auslese

Hier finden sich kurze Auszüge – die sogenannte «Lese-Auslese» – aus dem Roman  «Der Schönschreiber» von Daniel Sonder. Ausgewählt wurden einerseits einzelne Briefe, die der Buchprotagonist W. an verschiedene Frauen verfasst hat und andererseits auch Textstellen, die kurze Einblicke in W.s Alltagsbeobachtungen und in seine vielschichtige  Gedankenwelt offenbaren. Weitere ausgelesene Texte folgen. Hier besteht die Möglichkeit, sich punktuell und in unbedenklichen Dosen an W.s Welt zu versuchen.

Paradox der Liebe

4/12/2018

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«Es geht um Liebe», begann er. «Liebe in der radikalisierten Form bedingungsloser Hingabe. Nicht bloß darum, füreinander da zu sein, gemeinsam Krisen zu bewältigen, sich zu mögen, Interessen zu teilen, sich erotisch anziehend zu finden und insgesamt als Paar einfach gut zu funktionieren, sodass dann zu Recht etwa von einem starken Team oder ähnlichen an pragmatischen Vorstellungen ausgerichteten Begrifflichkeiten die Rede ist. Nein, es geht um mehr, eben um bedingungslose Hingabe, eine ganz eigene Qualität, die sich wohl mit den genannten Merkmalen vereinbaren lässt, aber keineswegs zwingend mit ihnen einhergeht. Angesichts dieses sehnsuchtsbesetzten und – man ahnt es – nach der Transzendenz greifenden Ziels, mag die in den Texten öfters anzutreffende Leichtigkeit erstaunen und die immer wieder aufscheinende Verspieltheit – gerade so, als würde das Gesagte jeder Verbindlichkeit entbehren und wäre es jederzeit ein Leichtes, dessen Negation als ebenso plausibel erscheinen zu lassen – gar befremden. Indes, diese Art der Annäherung, welche als einzige nicht von vornherein sich selbst ins Scheitern stürzt, ergibt sich unmittelbar aus dem Wesen der bedingungslosen Hingabe. Es gibt verschiedenste Weisen, wie die bedingungslose Hingabe konkrete inhaltliche Gestalt annehmen kann. Eine davon rückt die Unanfechtbarkeit der Liebe durch die Zeit in den Fokus.

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Die Liebe will Ewigkeit. Kaum hat sich ein Paar gefunden, beschäftigt es sich ausgiebig und nachhaltig mit Beschwörungen der Zukunft. Einer Zukunft, die selbstredend eine gemeinsame zu sein hat und, komme was wolle, ganz im Zeichen des Fortbestands der gegenseitigen Liebe steht. Von den Ferien zu zweit über das gemeinsame Heim und den daselbst zu zeugenden Nachwuchs, weiter zu dessen Aufzucht unter der Strahlkraft geteilter Ideale bis hin zu Visionen, die anheben mit dem Satz ‚Und wenn wir dann einmal alt sind …[vh1] ’, wird die Zukunft vorweggenommen als eine einzige Entfaltung der gemeinsamen Liebe. Und am Ursprung dieses eifrig-freudigen Planens und Entwerfens, im Dunkel und unanfechtbar, klingt der Satz ‚Bis dass der Tod euch scheidet’.
Was würden wir von einem halten, der sich dahingehend äußert, dass man sich zur Zeit zwar heftig liebe, jedoch keine Gedanken daran verliere, wie sich das Zusammensein künftig gestalten könnte, ja man auch nichts über die Dauer dieser Liebe vorwegnehme, nicht mal, ob sie den morgigen Tag überlebe? Wir würden zum Schluss gelangen, dass eine Gefühlslage, die so spricht, kaum etwas mit dem, was in der Regel unter Liebe verstanden wird, zu tun haben dürfte.
Liebe will Ewigkeit, und das, wenn immer möglich, unverbrüchlich garantiert. Eine derartige Gewissheit wiederum schließt mit ein, dass der geliebte Partner gar nicht anders kann, als die Liebe dauerhaft zu erwidern. Das heisst, es müsste ein Mechanismus ins Spiel kommen, der seinen eigenen Gesetzen gehorcht, gänzlich losgelöst von der Person des Partners. Ein Mechanismus, der sich in der Unbeirrbarkeit der physischen Sphäre des Menschen, in seiner genetischen Ausstattung vielleicht, verankert findet. Irgendeine den Vorgaben der Natur gehorchende Molekülkonstellation wäre damit verantwortlich für die Erfüllung der Liebessehnsucht nach Dauer und Gewissheit.
Spätestens an dieser Stelle setzt der Zweifel ein, ob diese so wunderbar fest gefügte Liebe überhaupt noch als Liebe von jemandem verstanden werden kann oder ob die Rede von einem Ich, das liebt, hier nicht vielmehr als unsinnig zu verwerfen ist. Es scheint, die Liebe als eine ewige und gewisse gibt es nur um den Preis, dass sie aufhört, diejenige einer Person zu sein. Aber auch und gerade darum geht es ja: Sie, die Liebe, soll von einer ganz bestimmten Person ausgehen als Ausdruck ihres ureigenen Wollens und darüber hinaus eben die unzweifelhafte Perspektive, für immer zu dauern, bieten.
Damit wird die jeder Liebe innewohnende Tragik offensichtlich. Sie verlangt Unerfüllbares, weil Paradoxes. Ist sie Ausdruck des autonomen Wollens eines lebendigen Individuums, wird sie niemals einer gleichsam naturgesetzlichen Konstanz genügen können. Versteht sie sich hingegen als ewig und gewiss, so wird sie vergegenständlicht und ihr Ursprung lässt sich nicht mehr in der Freiheit einer Person festmachen. In diesem Spannungsfeld hat man sich zu positionieren. Alles Umherirren hilft nichts. Der Ort, wo die Liebe ganz zu sich selbst gelangt, bleibt ewig unauffindbar und alle Versuche einer Annäherung finden nie über den Zustand eines labilen Gleichgewichts hinaus.
Aus all dem folgt aber auch, dass, wenn es um Liebe und Hingabe zu tun ist, die Autonomie und Würde des Gegenübers als unabdingbare Voraussetzung zu gelten hat, soll die ersehnte Form der Beziehung, und sei es auch nur im Versuch der Annäherung, Realität werden. Da bleibt wenig Raum für Manipulation egal welcher Art, denn sie greift per se gerade diese Voraussetzungen an. Aus Sicht des um Hingabe werbenden Mannes gibt es daher überhaupt kein Motiv, der Selbstbestimmung der Frau, betreffend eben die Hingabe, irgendwelche Schranken zu setzen.
Hinzu kommt, dass häufig eine Verletzung der Autonomie aufseiten der Frau angenommen wird, obwohl eine solche, genau besehen, gar nicht vorliegt oder es prinzipiell unmöglich ist, darüber zu befinden, wer nun wen kontrolliert, und die Frage danach sich damit von vornherein als unsinnig erweist.
Nehmen wir eine sexuell-erotische Beziehung, die sich definiert auf der Basis von Dominanz und Submission. Die Frau – selbstredend könnte diese Rolle ebenso gut der Mann innehaben – ist ihrem Partner ohne jede Einschränkung zu Diensten, ihr ganzes Wollen findet sich ausschließlich darauf gerichtet, ihm gerecht zu werden, egal wie abartig und demütigend, was er von ihr verlangt, auch sein mag, die Unterwerfung in der Hingabe an seine Bedürfnisse ist die eine große Sehnsucht, welche sie ganz und gar erfüllt. Und ginge ein Auswuchs seiner Fantasie etwa dahin, die solchermaßen Ergebene solle sich, um seine eigene Geilheit zu befördern, in seiner Gegenwart von einem Hund zum Orgasmus lecken lassen, sie würde sich unverzüglich hinlegen, ihre Beine weit öffnen und sich danach verzehren, den blinden Trieb des Tiers in ihrem Allerheiligsten wühlen zu lassen. Und es wäre ohne jeden Belang, ob sie in einem solchen Tun je zuvor einen Reiz erblickt hätte oder ob es ihr womöglich als zutiefst widerlich erschienen wäre, sie würde sich danach verzehren, wäre der Lust, es unbedingt und unverzüglich zu vollziehen, besinnungslos ausgeliefert – einzig, weil er es wollte, weil er die Aufforderung an sie gerichtet hatte, es zu tun.
Nun, vordergründig liegt es auf der Hand, wer hier wen beherrscht. Zu offensichtlich scheint es, wo in dieser Beziehung Macht und Ohnmacht zu verorten sind. Indes, diese Rollenverteilung ist nicht vom Himmel gefallen, noch leitet sie sich ab aus irgendeiner Naturgesetzlichkeit oder ist Teil der göttlichen Offenbarung, ebenso wenig wurde sie verfügt durch einen totalitären Staat oder ist sonst das Diktat irgendeiner autoritären Institution. Nein, diese Rollenverteilung und damit die Definition der Beziehung beruht auf einer Festsetzung durch die beiden Partner. Irgendwann haben sie sich, mehr oder weniger bewusst, die Frage gestellt, nach welchen Regeln ihr Zusammensein, die Art und Weise, wie sie einander begegnen, funktionieren soll. Fragen zur Ausgestaltung und Inkraftsetzung von Regeln weisen aber gegenüber Fragen, welche sich im Rahmen des Vollzugs der Regeln stellen, einen anderen logischen Status auf. Erstere befinden sich gegenüber Letzteren auf einer Metaebene und welcher der beiden Partner auf dieser das Sagen hat, ist gänzlich losgelöst davon, welche Herrschaftsverhältnisse auf der untergeordneten Ebene Gültigkeit haben. Daher ist es durchaus möglich, dass die gemäß unserem Beispiel in der submissiven Rolle agierende Frau auf der Metaebene die ganze Entscheidungsmacht auf sich vereinigt und dass sie, ohne die Bedürfnisse des Partners auch nur eines Blickes zu würdigen, durchgesetzt hat, dass die Beziehung sich am dominant-submissiven Schema ausrichtet, und er hinnehmen muss, dass sie beansprucht, sich ihm zu unterwerfen. Kraft ihrer Macht zwingt sie ihn, Macht über sie auszuüben.
Jetzt gerät die anfängliche Gewissheit darüber, wo die aktiv kontrollierenden Kräfte angesiedelt sind und wo nur passiv erlitten und der Manipulation gehorcht wird, doch schon arg ins Wanken. Und die Frage, wer denn nun wen beherrsche oder wessen Autonomie sich nun zulasten derjenigen des anderen aufblähe, kann einen nach dieser Betrachtung durchaus in Verlegenheit bringen.
Aber nicht genug damit, selbst wenn auch geklärt ist, wer auf der Metaebene das Sagen hat, wer also festlegt, welche Regeln und Rollenzuweisungen in der Ebene darunter gelten sollen und wer mithin daselbst das Sagen hat, kehrt noch keine Ruhe ein. Denn auch für die auf der Metaebene zur Anwendung gebrachten Regeln lässt sich selbstredend die Frage stellen, durch wen sie denn definiert worden seien, wer dabei was durfte, und damit auch, wessen Autonomie welches Maß an Raum gewährt wurde. Und jetzt kann es einem schwindlig werden, denn jede Ebene, als würde sie Rechenschaft einfordern über ihre eigene Entstehung, stößt einen auf die nächsthöhere und Ruhe, die kehrt gar nie ein.
Was ist dann mit dem Verführer, der womöglich der Idee unterliegt, dass je kultivierter, kontrollierter, unnahbarer, kühler, distanzierter eine Frau ist, desto grösser der Reiz, sie in einen Zustand rückhaltloser sexueller Hingabe zu versetzen. Dort, wo undurchdringliche Stummheit herrschte, Schreie hervorbrechen zu lassen, wo jede Bewegung wohldosiert und präzise ihrem Zwecke diente, in verschwenderischer Kraftaufwallung Umklammerungen, sich ins Fleisch bohrende Fingernägel herbeizuführen, wo alles Instrument war, unterworfen der Erreichung irgendwelcher Ziele, Raum zu schaffen für Ausdruck, für nichts als Gefühle, welche im absichtslosen Sichzeigen zu ihrer Bestimmung finden. Worum ist es ihm zu tun, dem Verführer, welcher im Banne dieser Vision steht? Ihm, dem eine Frau umso attraktiver erscheint, je grösser gleichsam ihre anzunehmende Fallhöhe ist oder je weiter der Sprung, den zu wagen ihr angeboten wird. Begeht er einen subversiven, Identität unterwandernden Akt oder ist seine Rolle nicht vielmehr die des Befreiers und Erlösers?
Und wo die Ekstase stattfindet, die Auflösung der Ichgrenzen, die Selbstpreisgabe, das Sichzergehenlassen in der besinnungslosen Auslieferung an die Lust, die Bereitschaft, seine Identität der namenlosen Begierde zu opfern, zu sterben um der Hingabe willen. Ist nicht das der Ort, wo das Weib zu erotischer Unwiderstehlichkeit hinfindet und wo all das Gezeter um wohlproportionierte Körperformen zur schieren Lächerlichkeit verkommt? Und diese Bereitschaft, ist sie als Ergebnis einer Manipulation zu sehen, erzwungen oder erschlichen, in jedem Falle zum Schaden der Betroffenen oder lässt sich ihr Ursprung nicht ebenso einleuchtend in reiner, durch nichts und niemanden beirrter Selbstbestimmung erblicken? Sich preisgeben als radikalste Form der Selbstwerdung.
Schließlich ist immer auch, wenn es um die Frage geht, wer wessen Verhalten und insbesondere auch Gefühle in welchem Maße kontrolliert, in Rechnung zu ziehen, dass auf Gefühle verweisende Worte öfters über den wahren Charakter ihres Gegenstandes hinwegtäuschen.
Eine These etwa geht dahin, dass je ausgeprägter die Fähigkeit, Gefühle in eindringliche und ergreifende Worte zu fassen, je poesievoller und romantisch aufgeladener die Rede über sie, desto geringer ihre Intensität, desto hinfälliger ihre Kraft zur Vereinnahmung. Oder, um es mit Nietzsche zu formulieren: ‚Wofür wir Worte haben, darüber sind wir auch schon hinaus. In allen Reden liegt ein Gran Verachtung.’ Und im äußersten Fall dann der virtuose sprachliche Ausdruck von Gefühlen als Ersatz für deren tatsächliche Existenz.
Oder noch radikaler, dann nämlich, wenn die Sprache nicht einmal mehr ein Defizit in der Sphäre der Sachverhalte kompensiert, sondern überhaupt jeden Bezug zur Lebenswelt verloren hat und sich gänzlich entbunden findet von ihrer Alltagsanwendung. Wenn sie solchermaßen über den Dingen schwebt, und – um ihn, Wittgenstein, den Grenzgänger der Sprache nochmals zu Worte kommen zu lassen – gleichsam feiert, statt zu arbeiten, dann ist der Autor frei, einzig nach Erwägungen der Ästhetik seine Wortkompositionen zu gestalten. Und die Last, dass Aussagen verpflichten, dass je mehr gesagt worden ist, der Spielraum für künftiges Sagen und Handeln umso enger wird, diese Last ist von ihm abgefallen. Und was er schafft, obwohl aus Sprachmaterial bestehend und sich als Text darstellend, weist Züge von Musik auf. Musik, die über die Ästhetik hinaus ebenso zu gar nichts verpflichtet, indem sie weder wahr zu sein hat noch konsistent, in dem Sinne, dass das heute Erklingende bereits die Grenzen dafür setzt, was morgen erklingen darf.
Und jetzt, wo bleibt das Opfer, wer kontrolliert wen zu dessen Schaden, wenn zwei Personen unter Verwendung sprachlicher Mittel solcherart miteinander «musizieren»?
Da werden doch einzig, um im Musikbild zu bleiben, gefällige Tonfolgen ausgetauscht zum Zwecke der gegenseitigen Aufmunterung und unter günstigen Umständen gar Beglückung. Wo sollen hier Tabubrüche stattfinden, wo Scham hervorgerufen und Verletzungen zugefügt werden? Da bleibt kein Raum für Missbrauch, welcher Art auch immer.»
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Baby on Board

12/10/2017

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Ich bin auf dem Weg zur Arbeit oder doch wenigstens zum Platz, der nach dieser befremdlichen Verhaltensmodalität benannt ist. Wahrscheinlich habe ich einen Lidschlag zu lange hingeschaut. Ignorieren ging jedenfalls nicht mehr. Zusehends verfiel meine Aufmerksamkeit dem Ding, ohne dass mir auch nur im Ansatz eine Mitsprache gewährt worden wäre. «Baby on board» an der Heckscheibe meines Vordermannes. Eine Bekanntmachung, die, davon war wohl auszugehen, in irgendeiner Weise für den nachfolgenden Automobilisten, in diesem Falle mich, von Relevanz sein müsste. 

Bestrebt, dem Schild gerecht zu werden, verfiel ich sogleich ins Grübeln. Korrektheit in dieser Situation verlangte nach einer Reaktion, so viel stand außer Zweifel. Worin die allerdings bestehen könnte, blieb mir gänzlich nebulös. Mit dem Andauern meiner Ratlosigkeit wandelte sich nun zu allem Elend auch der Charakter der Aufschrift. War es zunächst noch so was wie eine freundliche Bitte, um was auch immer, wurde sie mehr und mehr zu einer herrisch vorgebrachten Forderung, die schliesslich in einer aggressionsgeladenen, flammenden Anklage mündete. 

Ich begann zu schwitzen und meine Mundwinkel verfielen in gequälte Zuckungen, fernab jeder Kontrolle. 
Einer Frau stünde ja die Möglichkeit offen, sich vorsorglich oben frei zu machen, um dem armen Baby, sollte es sich in einem kritischen Ernährungszustand befinden, lebensrettend die Brust zu reichen. Nur, worin konnte für einen Mann die ethische Verpflichtung diesem hoffnungsvollen, unschuldigen kleinen Men- schenwesen gegenüber bestehen? Womöglich die nächste Bankfiliale anzusteuern, um fürs Baby ein Sparkonto zu eröffnen, dem dann monatlich, sagen wir mal, 100 Franken zu überweisen wären. Eine Einrichtung, die sich etwa dann als nützlich erweisen würde, wenn das mit Bestimmtheit begabte Kind einmal studieren sollte. Eine preisgünstigere, ja eigentlich beschämend knausrige Alternative bestünde darin, sich eine Pappnase überzustülpen, um dann, koste es, was es wolle, den Vordermann zu überholen und bei dieser Gelegenheit grimassierend dem Kinde zuzuwinken, getragen von der Hoffnung, solcherart im Antlitz des Babys ein Lächeln auszulösen. Oder einfach vor den Eltern auf die Knie gehen, um ihnen zu huldigen für den meisterhaften Vollzug des Zeugungsaktes oder ... 

Ich weiß nicht, aber es scheint mir, dass ich den Anforderungen des Straßenverkehrs je länger, je weniger gewachsen bin. Diese Informations-bomben, die dauernd um einen herum niedergehen, ich halt sie nicht mehr aus.
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Stehpinkler

12/10/2017

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Liebe Margarete 
Du scheinst eine recht eigenwillige Person zu sein. Das gefällt mir, auch auf die Gefahr hin, dass dies dir wiederum nicht gefällt.
   Jedenfalls forderst du zum Widerspruch heraus, was – dies will ich hier unbedingt eingeschoben haben – sich bestens mit emotionaler Verbundenheit im positiven Sinne vereinbaren lässt, auch wenn dafür bedauerlicherweise großmehrheitlich das Verständnis fehlt. Gefühle transzendieren das diskursive Geschehen, finde ich. 

   Du unterstellst, die Motivation fürs Stehpinkeln entspringe dem Wunsch, die eigene Männlichkeit betonen zu wollen. Es entzieht sich meiner Kenntnis, mit welcher Art von Männern du bisher Umgang gehabt hast. Fest steht indes, dass sich in meinem ausgedehnten männlichen Bekanntenkreis, ich selbst miteingeschlossen, auch nicht ein Individuum befindet, dessen Stehpinkeln sich im Sinne deiner Unterstellung erklären ließe. 
   Meine liebe Margarete, sorry, ich muss hier etwas belehrend werden, Männer stehpinkeln einzig deshalb, weil diese Form der Blasen-entleerung, der geschlechtsspezifischen anatomischen Gegebenheiten wegen, schlicht ein Höchstmaß an Funktionalität in sich vereint. Sich dagegen aufzulehnen, kommt einer Hybris gegenüber der Weisheit der Evolution gleich und ist, weil nicht adaptiv, aufs Entschiedenste zurückzuweisen. Also, deine Behauptung betreffend die Stehpinkelmotivation ist empirisch falsch. 
   Aber du gehst noch weiter und forderst, so mein Verständnis deiner Aussage, dass Stehpinkeln überhaupt abzuschaffen sei. Mein Verdacht geht dahin, dass an dieser Stelle deinerseits zwei Prämissen ins Spiel kommen, welche etwas gar klischeehaft und wenig reflektiert anmuten. Zum einen gehst du offenbar davon aus, dass der stehpinkelnde Mann außerstande ist, dem ange- sprochenen Vorgang in einem Maße Kontrolle angedeihen zu lassen, welches sicherstellt, dass keinerlei Beeinträchtigungen der Toilettenhygiene als unerwünschte Nebeneffekte resultieren. Schließlich scheinst du auch der Idee aufzusitzen, dass niemals der männliche Stehpinkler die von ihm benutzte Toilette reinigt, sondern dass dies vielmehr immer eine um ihre elementarsten Rechte betrogene und aufs Schändlichste ausgebeutete Vertreterin deines Geschlechts tut. Diese beiden Annahmen rekurrieren auf ein Männerbild, welches seit dreißig oder zutreffender seit vierzig Jahren überholt ist.

   Die bange Frage lautet: Könntest du dich mit einem keinen Männlichkeitsbetonungen zuneigenden, evolutionsverpflichteten, zielgenauen und vor Toilettenreinigungen nicht zurückschreckenden Stehpinkler anfreunden? 
   Und dass Freiheit heißen soll, die Erwartungen der anderen zu erfüllen, leuchtet mir auch nicht ein. Das wäre doch bloß so was wie die alte Unfreiheit mit umgekehrtem Vorzeichen. Wenn schon, müsste es darum gehen, die Erwartungen der anderen einfach zu ignorieren (was du mit Sternchen noch beigefügt hast, konnte ich leider nicht verstehen).
​   Wie auch immer, du wirkst anregend und hast ungewöhnliche Sympathien geweckt. 

Es wäre schön, wieder von dir zu hören. W. 
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Dumm gelaufen

12/10/2017

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​Mit eben dieser Kerstin war W. also zum Mittagessen verabredet. Zuvor hatte er allerdings noch an einer Sitzung teilzunehmen, in der Bank, wo er als Softwareentwickler seinem Broterwerb nachging. Das Treffen war äußerst kurzfristig anberaumt worden und im Betreff des Einladungsmails tauchte prominent der Begriff «Krise» auf. Beim Absender handelte es sich um ein hochrangiges Kadermitglied des IT-Bereichs. Das war die übliche Hysterie, die dann um sich griff, wenn ein Vertreter von einer noch höheren Hierarchieebene seinen Blick über die Niederungen des realen betrieblichen Geschehens hatte gleiten lassen und dieser dann an einem tatsächlichen oder auch bloß vermeintlichen Missstand haften geblieben war.


Vor langer Zeit hatten Sitzungen, die unter solchen Vorzeichen standen, W. noch in einen Zustand der Anspannung versetzt. Der Gedanke, es könnten Vorhaltungen an ihn herangetragen werden, die zu entkräften ihm nicht gelingen würde, lag dann immer irgendwo auf der Lauer und ließ ihn keine Ruhe mehr finden. In späteren Jahren dann wich in solchen Situationen die Furcht vor Peinlichkeit und Ansehensminderung zusehends einem Gefühl des Ärgers. Ärger über das in seinen Augen nichts als anmaßende und zugleich bemitleidenswert lächerliche Welt- und Selbstverständnis der zum Managerzirkel Zugehörigen. Lächerlich, weil sie ihren Einfluss auf den Lauf der Dinge in geradezu groteskem Maß überschätzten und dabei dem Wahn verfallen waren, je schneller ein Entscheid getroffen und je spektakulärer die daraus folgende Aktion sich darstellen würde, desto verlässlicher würden sich die realen Vorgänge ihrem Willen fügen. Eine Art magisches Denken, ähnlich der urtümlichen Vorstellung, mit der Erzeugung von dröhnendem Lärm, einhergehend mit heftigen, ruckartigen Bewegungen, ließen sich böse Geister vertreiben. Und das alles mit dem Anspruch, ihr Tun wäre das folgerichtige Ergebnis ebenso tiefreichender wie klarsichtiger, einzig dem Geist der Logik verpflichteter Untersuchungen. Derweil, so W.s Einschätzung, waren die typischen Entscheidungen, an denen die Manager ihre überlegenen Gaben erstrahlen lassen wollten, bei Weitem zu komplex und was ihre Konsequenzen anbelangt, zu sehr mit Ungewissheit behaftet, als dass sie noch rational hätten angegangen werden können. Die Folgerung lautete dann, dass Manager, dort, wo sie von umfassenden Analysen und Ähnlichem schwadronieren, nichts als würfeln und mithin als Zocker zu gelten haben, deren Tun einzig darin besteht, Launen des Schicksals mit Blick auf die Maximierung des persönlichen Nutzens zu kommentieren. Produziert der Zufall einen Sechser, trommeln sie sich auf die Brust, resultiert ein Einser, klagen sie über Faktoren, die sich prinzipiell nicht abschätzen ließen und ebenso prinzipiell schon gar nicht beeinflussbar wären.

Bei solchen Themen konnte sich W. in einen richtigen Furor hineindenken, dem keine Radikalität genug war und der Behauptungen hervorbrachte, deren Gültigkeitsanspruch weit über die Klasse der Manager und ihrer Funktionsweise hinausging und die sich nicht weniger anmaßten als den Status unumstößlicher Lehrsätze zum Menschsein überhaupt.
Demnach etwa sind dann Ideologien stets das Resultat einer Kapitulation gegenüber den Komplexitätszumutungen der Wirklichkeit. Ausdruck der Sehnsucht nach Freiheit von Ambivalenz, nach Überzeugungen jenseits jeden Zweifels, dem ganz und gar geeinten Wollen. Mithin: Sich seiner sicher sein als Leugnung der Unberechenbarkeit der Welt, als Zeichen des Unvermögens, deren Zugriffsverweigerungen auszuhalten.

Was die Manager anbelangte, bestand für W. kein Zweifel: Sollte es überhaupt solche geben, die in irgendeinem Sinne als gut gelten konnten, dann waren es die, welche, im Bewusstsein ihrer Überflüssigkeit, aus Dankbarkeit, dennoch geduldet zu werden, stillhielten und die produktiven Kräfte gewähren ließen.
Schließlich hatte sich auch dieses Gefühl des Ärgers mehr und mehr abgenutzt, sodass er an solchen Inszenierungen, obwohl raum-zeitlich anwesend, im eigentlichen Sinne gar nicht mehr teilnahm. Es war dann so, als würde gleichsam ein Delegierter von ihm bei jeweils passender Gelegenheit die im Kreise der Anwesenden erwarteten Sätze von sich geben, derweil er selbst, innerlich enthoben, in gänzlich anderen Sphären zugange war, wohin das äußere Geschehen nur selten und auch dann bloß bruchstückhaft durchdrang, ohne je eine Wirkung hervorzurufen, die über ein unsichtbares, ebenso flüchtiges wie müdes Lächeln hinausgegangen wäre.

Es gab auch eine Phase, da bereitete es ihm ein ganz besonderes Vergnügen, den Austausch zwischen den Teilnehmern an solchen Veranstaltungen unter einer ganz eigener Perspektive mitzuverfolgen. Grundlage war dabei der Umstand, dass die Kommunikation bei solchen geschäftlichen Besprechungen – noch ausgeprägter als bei sonstigem sozialem Geschehen – einer, wenn auch nicht offensichtlichen, so doch unzweifelhaften Doppelbödigkeit unterworfen war. Ging es auf der einen Seite und vordergründig um die Sache und nichts als die Sache, was auch jeder der Teilnehmenden uneingeschränkt für sich in Anspruch nahm, lief auf der anderen Seite, gleichsam inoffiziell und uneingestanden, noch ein ganz anderes Spiel. Hier der rationale Diskurs, darauf gerichtet, die gute, im Dienste der Unternehmensziele stehende Lösung zu finden, dort die weitgehend deregulierte, dem Diktat unberechenbarer Impulse folgende Auseinandersetzung um Rollenzuschreibungen, Beziehungsdefinitionen, Positionierungen in hierarchischen Gefügen und damit letztlich um die Frage, wer was darf und wem was verboten ist. Die Eigenart von W.s Perspektive bestand nun darin, dass sie ausschließlich den Raum gewissermaßen zwischen den beiden Böden in den Blick nahm und alle Deutungen des Gesagten als eines über die Sache ausblendete.
Auf diese Weise erschloss sich ihm eine Art Parallelwelt, die ihm während einiger Zeit einen deutlich höheren Unterhaltungswert bot als die durchwegs absehbaren Vorgänge bei einer Fokussierung auf die Sachebene.
Anfänglich etwas verstörend, dann aber zusehends erheiternd, fand er das Phänomen, dass sich mit dem Wechsel der Perspektive auch das Aussehen der beobachteten Personen veränderte. Wurden sie als der Sache zugewandt wahrgenommen, erschienen sie eher älter, in der Mimik und dem emotionalen Ausdruck überhaupt verhaltener und sich insgesamt äußerlich viel ähnlicher, als wenn die Aufmerksamkeit ihrem Tun rund um die Verortung des Egos galt. In der Sachbezogenheit fand offenbar in Teilen eine Einebnung von Unterschieden zwischen den Akteuren statt, während umgekehrt im Zuge der Interaktionen zur sozialen Positionierung individuelle Merkmale gerade auch betreffend das Erscheinungsbild stärker hervorgehoben wurden. Die äußerste Steigerung erfuhr das Spiel mit den zwei Welten, wenn W. wiederholt und kurzfristig von einer Perspektive zur anderen wechselte. Analog den geläufigen Kippbildern hatte er es dann gleichsam mit einer realen Kippszene, besetzt mit leibhaftigen Figuren, zu tun. Durch das rasche Hin- und Herkippen erhielt die Doppeldeutigkeit der Situation dabei eine Eindringlichkeit, die beinah schon unheimlich anmutete und in W. sich ein anregendes Kribbeln ausbreiten ließ, was diese auch länger dauernden, bei Normal-Perspektive an Ödheit nicht zu überbietenden Sitzungen gut gelaunt und nicht ohne Erlebnisgewinn überstehen ließ.
 
Beim Gegenstand der heutigen Sitzung, der offensichtlich für eine gewisse Aufregung gesorgt hatte, wodurch sich auch einige höherrangige Funktionsträger veranlasst sahen, in Erscheinung zu treten, handelte es sich um den Versand einer größeren Anzahl von Kundenschreiben mit fehlerhaften Abrechnungsdaten. Wobei erschwerend hinzu kam, dass es sich bei den zugrunde liegenden Bankgeschäften um solche handelte, die ihrer Natur nach Beträge involvierten, die sich deutlich außerhalb des üblichen Rahmens bewegten. Der Ablauf der Besprechung orientierte sich an dem für solche Situationen geltenden Standardschema. Zunächst wurde der Frage nachgegangen, wie das Ganze überhaupt passieren konnte, und insbesondere, welche Stellen dafür als verantwortlich zu identifizieren waren. Daran schlossen Erörterungen an, wie sich allenfalls eine Schadensbegrenzung gestalten ließe. Schließlich galt es noch, Überlegungen anzustellen, mittels welcher Maßnahmen sich künftig ähnliche Vorfälle vermeiden ließen. W. war vor allem im Zusammenhang mit dem ersten Punkt zu einer Stellungnahme aufgerufen, da offensichtlich auch Software, die in seine Zuständigkeit fiel, an der Produktion der fehlerhaften Kundenschreiben mitbeteiligt war. Es galt darzulegen, welche Umstände im Einzelnen zum Auftreten der Unstimmigkeiten geführt hatten. Hier bot sich ein weiter Gestaltungsspielraum an: Waren die Leute, die gestützt auf diese Ausführungen über Verantwortlichkeitszuschreibungen und Präventionsmaßnahmen zu befinden hatten, doch in der Regel aufgrund fehlenden Sachverstandes nicht in der Lage, die Plausibilität des Gesagten abzuschätzen oder auch nur eine kritische Frage dazu zu stellen. Das erlaubte dem zur Rede Gestellten, in diesem Falle W., sich im Zuge seiner Erklärungen nicht bloß an der Frage zu orientieren, was tatsächlich der Fall war, sondern auch daran, mit welcher Darstellung sich bei den anwesenden Managern diejenigen Entscheidungen provozieren ließen, die am ehesten in seinem Sinne standen. Um es bildhaft auf den Punkt zu bringen, wurde der Richter so zum willkürlich einsetzbaren Instrument in der Hand des Angeklagten. Ein Tatbestand, den dieser, sich allerhand rhetorischer Kunstgriffe bedienend, selbstredend nachhaltig zu vernebeln verstand. Das alles gestaltete sich als aufwendiger, wortreicher Vorgang, der aus taktischen Motiven abschnittsweise auch äußerst detaillierte Schilderungen miteinschloss. Insgesamt ein zielführendes Tun, aber irgendwie auch von einer gewissen Schwerfälligkeit und bar jeder Eleganz.
Umso hingerissener war W. von der Darbietung, die als Nächstes kommen sollte. Nachdem er seine Ausführungen zu Ende gebracht hatte mit einem betont festen Blick in die Gesichter aller anwesenden Entscheidungsträger und diese mit ernster Miene zurückschauten, so als hätten sie die Problematik in all ihren Dimensionen und ihrem ganzen Schweregrad jetzt kristallklar vor Augen, wurde eine jüngere Frau, die sich bisher noch nicht geäußert, das Geschehen aber aufmerksam mitverfolgt hatte, ihrerseits zur Stellungnahme aufgefordert. Es galt als unstrittig, dass die aufgetretenen Fehler auch durch Programme bzw. Daten, welche in ihre Zuständigkeit fielen, mitbeeinflusst waren. Da stand also die Frage im Raum, gestellt nicht ohne Strenge, wie denn das Versagen der von ihr zu verantwortenden Systemkomponenten zu erklären sei. Und deren Adressatin – W. hätte sich vor ihr niederwerfen und ihr lebenslängliche tiefste Verehrung zusichern können – sagte, nach einigen rasch hingeworfenen einleitenden Floskeln und anschließenden Signalen, dass jetzt gleich der Kern ihrer Stellungnahme folgen würde – sie sagte also in dieser Situation zwei, genau zwei Worte: „Dumm gelaufen!“

Hier muss man sich nochmals die Situation, in welche hinein diese zwei Worte gesagt hineinbrachen, vor Augen führen und sich die Atmosphäre im Sitzungsraum in aller Deutlichkeit vergegenwärtigen, den Anspruch auf allgemeine Betroffenheit im Angesicht der Krise, welche es zu bewältigen galt, die allgegenwärtige Aufforderung, Verantwortung zu übernehmen und sämtliche relevanten Sachverhalte rückhaltlos aufzuklären, dann natürlich die als selbstverständlich geltende Ernsthaftigkeit und Sorgfalt, mit der all dies zu geschehen hatte, und dazu, über dem Ganzen schwebend und es durchdringend, die lauernden Blicke der Obrigkeitsvertreter, inquisitorisch und unerbittlich.

Dieses Bewusstsein um die Situation mit all ihren Verhaltensdiktaten ist erforderlich, um den Zustand der Begeisterung, in welchen die zwei Worte W. versetzten, begreiflich zu machen. Weiterhin ist auch zu berücksichtigen, dass das «dumm gelaufen» selbstredend nicht als isolierte verbale Äußerung vorgebracht worden war, sondern im Verbund stand mit anderen Ausdruckselementen – insbesondere mit einem Lachen, dessen Unbekümmertheit dem Gesagten eine Leichtigkeit verlieh, dass es gleichsam durch den Raum zu schweben schien. Darüber hinaus aber auch einem Lachen, das die Lippen wahrgenommen haben wollte, wie sie sich öffnen, den Blick freigeben auf die Zähne und tiefer im Mund die Zunge erahnen lassen, mithin auch ein sinnliches Lachen, Abschweifungen hin zu erotischen Fantasien ermöglichend, ein Versprechen gar, nicht nachzuweisen, aber doch erlaubend, als solches verstanden zu werden.
Rückblickend, mit dem Gefühl, die ihm passend erscheinende Begrifflichkeit gefunden zu haben, würde W. die Botschaft in all ihren Ausdrucksdimensionen, mittels der die junge Frau hätte Rechenschaft geben sollen, als Gesamtkunstwerk bezeichnen. Eines, das in hochverdichteter Form den Plan für ein grundlegend gewandeltes menschliches Zusammenleben in sich barg und welches insofern auch einen subversiven Akt von unabsehbarer Tragweite darstellte. Und dann würde es ihn weitertragen zu Spekulationen darüber, ob wir in einer Welt leben, in der es zentral um die Frage «Wahr oder falsch?» geht, oder nicht eher in einer Welt, die beherrscht wird vom Thema «Hässlich oder schön?». Und ob Fragen der Erkenntnis reduzierbar seien auf Fragen der Ästhetik. Ob sich Argumente durch ihre Schlüssigkeit oder Rhetorik kraft ihrer Schönheit durchsetzen. Und schließlich würde er vorläufig zur Ruhe finden in der zusammenfassenden Frage, ob Wahrheit womöglich nicht als erkenntnistheoretische, sondern als ästhetische Auszeichnung zu gelten habe.
 
Jetzt während der Sitzung aber war W. einfach nur hingerissen. Und hätte sie, die eigentlich zur Rechtfertigung aufgerufen war, auch den Untergang der ganzen Firma einschließlich seines eigenen Arbeitsplatzes zu verantworten gehabt, er hätte, im Bann des Zaubers und erfüllt mit jeder Hoffnung, vielleicht auch etwas verlegen, zurückgelächelt und dabei gedacht: „Dumm gelaufen!“ Und allen anderen Anwesenden wäre es ebenso ergangen.  
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Leitungswasser

12/10/2017

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Leitungswasser
 
Sie wollte gehen und verlangte die Rechnung.
Als sie diese ausgehändigt bekommen hatte, machte sie sich sogleich daran, deren Positionen auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Eine Gewohnheit, deren Verfestigungsgrad W. mehrfach kläglich hatte scheitern lassen im Versuch, Kerstin davon abzubringen. In teils mit großer Heftigkeit geführten Auseinandersetzungen hatte es W. nicht einmal geschafft, Kerstin überhaupt dahin zu bringen, sich auch nur die Frage zu stellen, ob dieses – von W. als peinliche Unsitte bezeichnete – Verhalten denn wirklich durch und durch angemessen sei. Zeitdruck hin oder her, Kerstin war auch jetzt außerstande es zu lassen und fand auch, für W. wenig überraschend, Anlass, an einem Eintrag auf der Rechnung Anstoß zu nehmen.
Sie hatte während des Essens zwei Gläser Leitungswasser zu sich genommen und ihr Finger zeigte jetzt, übermäßig gestreckt, als gälte es das bezeigte Objekt platt zu drücken und damit der Vernichtung zuzuführen, so schien es jedenfalls W., auf die Position «2x Wasser natur, 1,50, 3,00».

Rollenden Augen und schwerem Atmen seitens W.s war keine Wirkung beschieden. Unbeirrbar und mit empörungsgeladener Geste zitierte Kerstin den Kellner an den Tisch. W. wusste, was folgen würde. Entsprechend fühlte er sich unbehaglich und hätte, um nicht Zeuge der sich anbahnenden Diskussion sein zu müssen und womöglich noch als Gesinnungsgenosse oder gleichsam Mittäter wahrgenommen zu werden, am liebsten seinen Anteil der Rechnung auf den Tisch gelegt und Kerstin mitgeteilt, er ginge jetzt und würde draußen vor dem Eingang auf sie warten. Zugleich fand er aber auch, dass von Kerstin an den Tag gelegte Verhaltensweisen einzig in ihre Verantwortung fielen und dass, sollte der Kellner diesbezüglich einer anderen Auffassung zuneigen, es allein dessen Problem wäre, welches W. in keinster Weise zu berühren bräuchte.
Solcherart hin- und hergerissen, verpasste es W., sich rechtzeitig davonzumachen und er hörte Kerstin in unverhohlen anklagendem Ton behaupten:
«Verzeihung, aber hier liegt ein Irrtum vor!» 
Damit war die Richtung der Auseinandersetzung gewiesen, welche zusehends gehässigere Züge annahm.
Kerstin versuchte darzulegen, dass die Kosten für die Bereitstellung von einem Glas, gefüllt mit Leitungswasser, auch unter Bemühung einer Vollkostenrechnung gegen Null tendieren würden und dass daher der geforderte Preis von CHF 1,50 einer kaum zu überbietenden Kleinlichkeit entspringe, welche einen dunklen Schatten auf das Image des Lokals werfen und den Gast zu Recht zur bitteren Erkenntnis führen würde, dass die ihm hier zugedachte Rolle wohl vorrangig die eines Abzockobjektes wäre.
Dem hielt der Angegriffene nicht minder eloquent und differenziert entgegen, dass, wie zu Recht behauptet, die Einzelkosten für das Produkt «ein Glas Wasser» zwar vernachlässigbar seien, dass sich aber ein ganz anderes Bild zeige, wenn die Gemeinkosten vollumfänglich erfasst und fachlich korrekt den Einzelkosten zugerechnet würden, und dass sie wohl reichlich ahnungslos sein dürfte betreffs der Größenordnung der Gemeinkosten in einem Gastronomiebetrieb. Dann sei weiter auch der aus Wirtesicht unerfreuliche Trend zu berücksichtigen, dass je länger, je mehr Gäste nach Leitungswasser verlangen würden, was in der Regel dann mit einem Verzicht auf sonstige Getränke einherginge – ein Trend im Übrigen, dessen Ursprung sich ihm nicht zur Gänze erschließe, sodass ihm nur zu spekulieren bliebe, dass im Bestellen von Leitungswasser womöglich ein symbolischer Akt zu erblicken sei, welcher dazu dienen sollte, den Anspruch auf ein in besonderem Maße geschärftes ökologisches Bewusstsein zum Ausdruck zu bringen. Jedenfalls würde diese gesteigerte Nachfrage nach Leitungswasser den Umsatz von den traditionellerweise georderten Getränken, deren Kostenpflichtigkeit ja gänzlich unstrittig sei, empfindlich schmälern. Und diese Einbußen müssten ja schließlich irgendwie kompensiert werden. Da hätte grundsätzlich auch die Möglichkeit einer generellen geringfügigen Erhöhung des Preisniveaus in Betracht gezogen werden können, was dann aber gewissermaßen auf eine Sozialisierung der Kosten hinausgelaufen wäre, als deren Verursacher doch eindeutig die Leitungswasserbesteller zu identifizieren seien. Dieser Lösungsansatz sei daher aus allgemeinen Gerechtigkeitsüberlegungen verworfen worden, sodass sozusagen als kleinstes Übel nur noch die Alternative geblieben sei, das Produkt Leitungswasser separat in Rechnung zu stellen. Wobei die Rede vom Produkt Leitungswasser sich allenfalls als etwas irreführend erweisen könnte, da es sich im gegebenen Kontext selbstredend nicht um eine bloße Ware handle, sondern dass dabei immer auch ein beachtlicher Dienstleistungsanteil mit involviert sei. Hier möchte er aber darauf verzichten, diesen Aspekt im Einzelnen weiter zu erörtern, da die Mittagsöffnungszeit nun doch schon um einiges überschritten sei. Zum Schluss möchte er nur noch darauf hinweisen, dass diese ganzen Erläuterungen, zu denen er sich aufgefordert sah, wohl auch eine offensichtlich im Zusammenhang mit dem Glas Leitungswasser stehende Dienstleistung darstellen würden.
An dieser Stelle hielt der Kellner inne, verstummend wandte er den Blick ab von seinem Gegenüber in eine imaginäre Ferne, als würde er dort am Horizont das Aufgehen des Gedankens verfolgen, den er sich dann anschickte, das Auge nun wieder auf seiner Kontrahentin, mitzuteilen:
«Wobei man hierzu, das sei der guten Ordnung halber noch erwähnt, allerdings berechtigterweise einwenden könnte, dass es sich dabei um eine zirkuläre Argumentation handle, da ja erst der Umstand der separaten Verrechnung dazu führe, dass Diskussionen der vorliegenden Art überhaupt stattfänden.»
Damit hatte er seine Replik beendet und platzierte, nicht frei von Theatralik, gerade so, als würde nun zum Vollzug eines höchstrichterlichen Urteils von unabsehbarer Tragweite geschritten, die Rechnung derart auf dem Tisch, dass sie sowohl von Kerstin als auch von W. ungehindert einsehbar war. Zugleich öffnete er seine Börse demonstrativ weit und änderte seine Körperhaltung dahingehend, dass ein eben erst hinzugetretener Beobachter den Eindruck hätte gewinnen müssen, der bemitleidenswerte Serviceangestellte warte schon unzumutbar lange auf die Begleichung der Rechnung und wüsste darob gar nicht mehr, wie sich aufrecht halten.
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Not

12/10/2017

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Liebe Kerstin

Gut möglich, dass du mein vorgängiges Mail auch eben erst zu Gesicht gekriegt hast und jetzt bereits wieder eins. Ich weiß, du wirst derzeit gerade in übersteigertem Maße mit Geschriebenem von mir eingedeckt und magst dich womöglich darüber wundern. Auch mir passiert es, wenn ich zwischenzeitlich wieder Atem hole und bei dieser Gelegenheit in den Blick kriege, was ich da eigentlich veranstalte, dass mich ein Gefühl des Befremdens erfasst und mir die Frage, wo denn der Antrieb für all das seinen Ursprung haben könnte, nichts als Verlegenheit beschert. Nur, ich unterlasse es, da tiefer einzudringen, nehme bewusst und mit Entschiedenheit Abstand von allen Analyseversuchen und bekenne, wenn ich dies wiederum dann doch analysiere, dass es Angst ist, nichts als Angst, das mich davon abhält, hier erhellende Vorstöße zu unternehmen. Angst, mir könnte sich aufdrängen, es sei wohl opportuner, dir nicht mehr zu schreiben. Und an diesen Punkt, liebe Kerstin, will ich nicht gelangen.
 

Dann schau doch mal meine folgenden Gedanken an, welche ich schon vor längerer Zeit für mich festgehalten habe. Sie handeln vom aussichtslosen Versuch, trotz der unabweisbaren Ahnung um das Paradox der Liebe, von dem wir anlässlich unseres letzten Treffens ja gesprochen haben, doch noch zu einem Ort der Gewissheit zu finden und gleichsam festen Boden unter die Füße zu kriegen (vielleicht erinnerst du dich, ich habe dir diesen Text ja noch versprochen). 

«Mein dichtes langes Haar gefällt dir, ebenso meine gebräunte Haut. Wenn das nun verloren ginge, mir die Haare ausfielen und die Haut erbleichte, würdest du mich dann immer noch lieben?
   Und wenn ich darüber hinaus einen Unfall hätte und man mir ein Bein amputieren müsste, was wäre dann mit deiner Liebe?
   Und wenn mir dann, weshalb auch immer, noch das verbliebene Bein genommen würde, wie stünde es dann um deine Gefühle mir gegenüber?
   Stell dir weiter vor, meine Fähigkeit zu sprechen ginge auch verloren und mein Gesicht würde entstellt und irgendwann wäre ich nur noch eine durch und durch beschädigte Kreatur, ein zitterndes Etwas, am Rande des Lebendigen vegetierend. Würdest du auch dann noch den Satz ‹Ich lieb dich› über deine Lippen bringen?»

   Der Mann hatte seine Rede mit zunehmender Erregung geführt. Wie Peitschenhiebe ließ er die Fragen auf die junge, dem Mädchenalter noch kaum entwachsene Frau niedergehen. Aber auf jede einzelne von ihnen ließ sie unverzüglich ein festes Ja folgen. Nun saß sie da, in die Kissen gelehnt, die Wangen vom eben vollzogenen Geschlechtsakt noch leicht gerötet, mit einem zaghaften Ausdruck von Stolz und Tapferkeit im Gesicht.
   Sein Blick tastete sie forschend ab. Eine feine Schweißspur hielt einige Strähnen ihres Haaransatzes feuchtglänzend auf der Stirn fest.
   Er fühlte sich getrieben, musste abschließend wissen, ob auf das Mädchen Verlass sei, ob ihre Liebe zu ihm, egal was auch immer ihm widerfahren würde, unerschüttert bliebe. Gab es kein Zeichen, keinen Hinweis, nicht eine Andeutung in diesem off
enen, beinahe noch kindlichen Gesicht, welche ihm mit einem Male Gewissheit verschafft hätte? War da nichts, das die unberechenbaren, immer wieder in sein Bewusstsein hineinschießenden Zweifel endgültig untergehen ließe? Etwas, das ihn vom steten Argwohn, von der dauernden angespannten Bereitschaft zum Abwehrkampf befreit hätte?
   Er sehnte sich nach dem, das bleibt, auch wenn er es sein lässt. Nach einer Gewissheit, die von sich aus Bestand hätte, jenseits seines Zutuns. Die weiter existieren würde, auch ohne seinerseitige Beschwörungen, von der sich sein Blick lösen dürfte, ohne dass sie verloren ginge.
   Natürlich hätte er der jungen Frau auch irgendwelche Aussagen über ihre Ja-Antworten abverlangen können. Versicherungen, dass die Antworten nichts als ehrlich und ganz und gar der Wahrheit gemäß erteilt worden seien. Nur hatte er schon längst erkannt, dass derartigen Versuchen, mittels übergeordneten Aussagen der jeweils tieferen Ebene Gewissheit einzuhauchen, kein Erfolg beschieden war. Dies daher, weil Metaebenen ihrerseits dazu neigen, binnen Kürze nach ihren eigenen Metaebenen zu rufen, was dem ganzen Vorgang etwas entschieden Unabsehbares verleiht. Aussagen bleiben Aussagen und damit bezweiflungsfähig, auch wenn sie in schwindelerregender Stufung übergeordnet sind. 


Gruß,W. 


Und wieder ertappte sich W. bei der besorgten Frage, was der Text bei Kerstin wohl auslösen würde. Ob sie am Ende des Lesens, wenn sich ihr Blick von den Zeilen gelöst hätte und, ohne zu schauen, irgendwohin gerichtet wäre, ob dann ihr Bild von ihm ein anderes geworden wäre. Ob die Falte, sich von der Nasenwurzel hinziehend zur Stirn, tiefer reichen würde als eben noch zuvor und sie ihn damit in einem skeptischeren Lichte sähe. Ob ihre Gunst ihm gegenüber Schaden genommen haben könnte, er ihr fremd erscheinen oder sie gar ängstigen würde. Oder ob das alles überhaupt nicht zutraf, sondern genau das Gegenteil davon. Ein Gedanke, der bei W., auch wenn er sich ihm nur schon vorsichtig anzunähern begann, Gefühle hervorrief, deren Unvertrautheit und Eindringlichkeit ihn sogleich zurückschrecken ließ. 
   Dabei wollte er sich doch gar nicht mehr mit derartigen ohnehin zu keinem Ergebnis führenden, immer nur neue Zweifel hervorbringenden Erörterungen beschäf-tigen. Sein Ziel war ja einzig, sich zu zeigen, unverstellten Einblick zu gewähren in das, was ist, und eben gerade nicht, bestimmte vordefinierte Wirkungen zu produzieren. Aufhören sollte sie endlich, diese Selbstinstrumentalisierung. 
   Und dennoch, wenn Kerstin den Text nicht verstand oder falls sie es tat, seinen Inhalt ablehnen würde, zum Schluss käme, jemandem, der so dächte, könne sie nicht wirklich nahe sein, und sie dann Anstalten zeigen würde, sich von ihm zu entfernen – W. beunruhigten diese Vorstellungen. Er würde, sollte sich ein solches Szenario abzeichnen, dagegen ankämpfen. Er müsste dann Kerstin unbedingt zur Klarheit verhelfen darüber, aus welchen Motiven der Text tatsächlich hervorgegangen ist, worin das eigentliche Wesen des Autors besteht, das in ihm aufscheint. Und vor allem müsste er sie hinführen zur abgrundtiefen Not, die hier zur Sprache gefunden hat und um Erhörung bittet. Er würde ihr von seiner Sehnsucht nach Gewissheit erzählen und von ihrer Widersacherin, der Furcht, einer bloß trügerischen zu erliegen. Und er würde das Bild entwerfen von einem Mann, der sich dem freien Fall überlässt, weil er glaubt, hätte er einmal Halt gefunden, könnte dieser dann doch nachgeben und er würde fallen. Und er würde ihr erklären, dass das mit den vielen Mails an all die Frauen etwas mit diesem freien Fall zu tun hätte. Und am Schluss, diesem Satz hatte er sich schon im Wortlaut Gestalt gegeben, würde er sie anflehen. «Ja siehst du sie denn nicht, die Not, die hinter all dem steht, die schiere Verzweiflung, die hier die Feder führt?» 
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